Kattavia ist das südlichste Dorf auf Rhodos. Während der itlaienischen Besatzungszeit gab es hier eine Seidenfabrik, einen Militärflughafen, Kasernen und Klöster. Heute lebt das Dorf vor allem von Touristen, die am 5 km entfernten Prassonissi Beach an der Südspitze der Insel surfen und dort nicht im Wohnmobil campieren wollen. Se finden im Dorf Fremdenzimmer und mehrere Tavernen. 1974 haben zum ersten Mal ausländische Urlauber in Kattavia übernachtet. GZ-Autor Klaus Bötig war damals dabei und schildert hier seine Erlebnisse.
Auf Rhodos war ich 1974 zum ersten Mal für längere Zeit. Vor und nach der Kreuzfahrtsaison, in der ich auf einem kleinen Cruise-Liner namens M/V Aphrodite tätig war, arbeitete ich dort jeweils als Reiseleiter für ein deutsches Jugendreiseunternehmen: vom 28. März bis zum 14. Mai und dann noch einmal vom 1. bis zum 8. Oktober. Ein Mann, ein Dorf, ein Strand und ein Kafenio haben aus jener Zeit starke Erinnerungsspuren hinterlassen: Apostolos X. Kosmas, Besitzer eines namenlosen Kafenio am kleinen Dorfplatz von Kattavia.
Ohne die Insel zu kennen, hatte ich meine sieben Gäste zu einer Inselrundfahrt animiert. Wir mieteten zwei offene Citroen Mehari und starteten früh. In Faliraki standen noch keine Hotelklötze, Charaki war ein echtes Fischerdorf, Lindos stand ganz am Anfang seiner touristischen Karriere. Südlich von Lindos gab es keine Hotels mehr. Hinter Gennadi war die Inselrundstraße nicht mehr asphaltiert. Wir hatten viele Pausen gemacht und erreichten Kattavia, das südlichste Dorf der Insel, erst am Nachmittag. Trotzdem wollten wir hier wieder einen Stopp einlegen. Am Straßenrand stand ein Mann um die 50 vor einem Kafenio und bedeutete uns anzuhalten. Das taten wir brav. Er bat uns in sein spärlich möbliertes Lokal. Es blieb nicht beim Kaffee. Der Wirt, der sich als Apostolos vorstellte und einen Mix aus Griechisch und Italienisch sprach, briet uns in Ermangelung von Kuchen ein paar Spiegeleier und stellte zur besseren Verdauung eine Flasche Ouzo auf den Tisch. Dann kam der einarmige Dynamitfischer des Dorfes, ein Moslem namens Mustafa, hinzu und setzte sich an ein kleines Tischlein in der äußersten Ecke. Anscheinend hatte sich schnell herumgesprochen, dass junge Ausländer im Dorf seien. Nach und nach trudelte noch eine Handvoll Männer ein. Apostolos stellte den Kassettenrecorder lauter. Einer der Männer begann zu tanzen. Die Ouzoflasche leerte sich, bald hüpften wir mit den Griechen im Kreis herum. Apostolos schnipselte Salat, legte Landwürste in die Pfanne und schlug noch ein paar Eier auf. An eine Rückfahrt in die noch 50 km entfernte Inselhauptstadt, in der wir wohnten, war nicht mehr zu denken.
Doch wo übernachten? In Kattavia gab es keine Fremdenzimmer, fahren konnte keiner von uns mehr. Zelte hatten wir nicht dabei, Pyjamas und Zahnbürsten auch nicht. Apostolos hatte eine Lösung parat. Er selbst wohnte in einer kleinen, modernen Wohnung gleich neben dem Kafenio. Sein stattliches Elternhaus ein paar Meter weiter stand schon länger leer. Dorthin führte er uns. Das ganze Haus bestand aus einem einzigen großen Raum, der Sala. Fast die Hälfte dieses Raums nahm eine erhöhte Plattform ein, auf der früher die ganze Familie geschlafen hatte. Unter der Plattform wurden die Vorräte gelagert. Es war warm, wir waren schlaftrunken und schliefen auf dem nackten Holzboden ganz schnell ein.
Am nächsten Morgen gab es Spiegeleier und griechischen Mokka. Apostolos fragte, ob alles okay gewesen sei. Wir bejahten die Frage. Ich bedeutete Apostolos nur, dass das Loch im Boden, das im Haus als Toilette diente, für mich ein Handicap war: Ich sei es gewohnt, auf der Toilette zu sitzen. „Entschuldigt“ antwortete er und gab uns den Tipp, nicht gleich zurück in die Stadt zu fahren, sondern vorher noch einen Abstecher nach Prassonissi zu unternehmen, der Südspitze der Insel. Das taten wir denn auch. Die Piste dorthin war rau, aber durchaus zu bewältigen. Am mehrere hundert Meter breiten Sandstrand, heute ein Hotspot für gute Windsurfer, stand damals noch kein einziges Haus. Am ganzen Beach war kein Mensch. Wir konnten uns nackt in den niedrigen Dünen tummeln. Bis ins Wasser kamen wir gar nicht.
Eine Woche später ging ich mit neuen Gästen wieder auf Inselrundfahrt. Diesmal hatte ich sie von vornherein als zweitägige Tour mit Übernachtung in Kattavia angeboten. Fischer Mustafa und die anderen Männer kamen wieder zu Apostolos, der inzwischen mit Seegras gefüllte Matratzen auf der Schlafempore ausgelegt hatte. Und auch die Toilette hatte er aufgewertet: Über dem Loch im Boden stand jetzt ein Kaffeehausstuhl, in dessen geflochtene Sitzfläche er ein Loch eingeschnitten hatte.
Als ich dann wenige Wochen später Rhodos wieder verließ und auf mein Schiff ging, übernahm meine Nachfolgerin diese zweitägige Inselrundfahrt in ihr Inselprogramm. Die Kunde vom urigen Apostolos sprach sich in Reiseleiterkreisen herum, auch andere Gruppen legten in diesem Sommer bei Apostolos Pausen ein. Er verdiente in diesem Jahr so viel wie noch nie zuvor.
Als ich in der ersten Oktoberwoche des gleichen Jahres dann noch einmal mit einer Gruppe bei ihm übernachtete, lernte ich Apostolos‘ Sohn kennen. Er war ein paar Jahre in den USA gewesen und hatte vom dort erschufteten Geld seinem Vater ein modernes Badezimmer geschenkt, das nun von den Kafenio-Gästen mitbenutzt werden durfte.
Als wir am nächsten Morgen aufbrechen wollten, bat Apostolos uns darum, ihn mit in die Stadt zu nehmen. Als einziges Gepäckstück hatte er einen Plastikbeutel dabei. Weil er in der Stadt keine Verwandten hatte, wollte er in unserem Hotel absteigen. Als ich ihn an der Rezeption vorstelle und sagte, woher er kommt, erhielt er kostenlos ein Zimmer: Ein Hinterwäldler aus dem fernen Kattavia hatte hier noch nie schlafen wollen. Beim Hotelfrühstück am nächsten Morgen zeigte sich Apostolos erstaunt darüber, dass wir nicht schmatzten. Es sei doch lecker.
Nun hieß es Abschied nehmen. Apostolos verließ mit seiner Plastiktüte in der Hand fröhlich tänzelnd das Hotel. In der Tüte waren seine Einnahmen der Saison. Die wollte er nun zur Bank bringen.
Als ich im Herbst des folgenden Jahres, also 1975 noch einmal ohne Gäste nach Kattavia kam, war Apostolos nicht mehr da. Seine einäugige Frau und sein aus Amerika zurückgekehrter Sohn führten nun das Dorf-Kafenio. Apostolos selbst hatte ein kleines Kafenio in der Inselhauptstadt gemietet, das vor allem die Ladeninhaber der Umgebung als Kundschaft hatte. Damit hatte er sich wohl einen Lebenstraum erfüllt, war vom Dörfler zum Städter geworden. Jeden Sonntag fuhr er allerdings in einem gebraucht gekauften VW Käfer nach Kattavia. Da holte er sich sein Essen für die kommende Woche ab, das seine Frau für ihn vorbereitet hatte. Werktags schrieb er in seiner Freizeit in der Stadt Gedichte, die er in zwei selbst finanzierten Heftchen auch publizierte. Darin brachte er vor allem seine Liebe zum Dorf, zur Insel und zum großen griechischen Vaterland zum Ausdruck.
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Viola (Donnerstag, 03 März 2022 05:55)
Vielen Dank für diese wundervolle Zeitreise!
Ich kann das Meer in Prassonissi und den Ouzo riechen!
Auch in den 80 sah die Insel noch ganz anders aus...so kann ich mir sehr gut vorstellen, wie Strassen und Häuser ausgesehen haben...
qeNtfPNC (Sonntag, 18 September 2022 04:22)
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qeNtfPNC (Sonntag, 18 September 2022 05:09)
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