Text: Klaus Bötig
Fotos: Bastian Parschau
Auf Kreta war ich erstmals im Winter 1973/4 für ein paar Wochen unterwegs. Ich war in meinem Renault R4 von Marburg aus mit einer deutschen Kommilitonin und einem Kommilitonen aus Dayton/Ohio losgefahren, die mir eine Mitfahrzentrale vermittelt hatte. Als wir nach der Durchquerung Jugoslawiens endlich in Athen ankamen, beschlossen die beiden, nicht wie eigentlich gebucht in Athen auszusteigen, sondern die Reise mit mir fortzusetzen. Eine junge Südafrikanerin namens Joanne schloss sich uns in Athen auch noch an. Mir war es recht.
Nach ein paar Tagen in Iraklio steuerten wir die Südküste an. Es dämmerte schon, als wir die große Ebene Messara erreichten. Wir wussten nicht, wo wir übernachten sollten. Internet und Buchungsportale gab es ja noch nicht und die Übernachtungsmöglichkeiten waren damals noch recht dünn gesät. Wir hielten am Straßenrand, um zu beraten. Ein etwa zehnjähriger Junge sah uns und kam auf uns zu. Wir fragten ihn, ob er wisse, wo wir schlafen könnten. Er bat uns, einen Moment zu warten. Nach drei Minuten kam er zurück und forderte uns auf, mit ihm zu kommen. Er brachte uns in ein kleines, einfaches Bauernhaus. Seine Eltern zeigten uns, wo wir uns darin hinlegen konnten und stellten noch die damals allgemein üblichen Fragen: „Wie heißt du? Woher kommst du? Wie ist das Trinkwasser da? Ist es da immer kalt und dunkel? Bist du verheiratet? Wieviel verdienst du im Monat?“ Am nächsten Morgen bekamen wir noch heiße Ziegenmilch und harten Zwieback – Geld von uns zu akzeptieren kam für die Familie nicht in Frage.
Ein noch viel größeres Maß an Gastfreundschaft widerfuhr meiner Frau Christiane Ende September 1977 auf Gavdos, der Kreta vorgelagerten südlichsten Insel Europas. Ich hatte schon im Frühjahr einen Auftrag der Reisezeitschrift Merian für eine Reportage über dieses Eiland angenommen und plante den Trip dorthin für den September. Doch dann übernahm ich für den Studienreiseveranstalter Studiosus, für den ich inzwischen gelegentlich arbeitete, eine große Griechenlandrundreise, die bis zum, 2. Oktober dauern sollte. Anfang September kamen mir Bedenken, ob ich Gavdos im Oktober überhaupt noch erreichen könnte. Die Insel war nur durch ein zweimal wöchentlich verkehrendes, winziges Kaiki mit Südkreta verbunden und das Libysche Meer war im Herbst oft stürmisch. Also bat ich Christiane, doch sicherheitshalber schon einmal Mitte September für eine Woche nach Gavdos überzusetzen. Notfalls könnte ich dann meine Reportage auf Basis ihrer Erlebnisse schreiben.
Christiane machte sich mutig allein auf den Weg. In Paleochora stieg sie morgens auf das Kaiki, das sie in etwa dreistündiger Fahrt auf den Inselzwerg bringen sollte. Mit an Bord waren zwei Mann Besatzung, eine ältere Frau, eine Handvoll Ziegen, ein paar Kartons, Säcke und Getränkekisten. Die beiden Frauen kamen miteinander ins Gespräch, soweit das angesichts der damals stark rudimentären Griechischkenntnisse von Christiane überhaupt ging. Auf jeden Fall war klar: Kyria Poppi war die Schwiegermutter des Inselpopen. Und Christiane sollte in ihrem Haus auf Gavdos wohnen.
Der Pope stand in schwarzem Talar am Anleger bereit. Er hatte zwei Esel bei sich. Eigentlich war einer für ihn, der zweite für Frau Poppi bestimmt. Doch nun war ja auch noch Christiane da. Also bekam sie den Esel des Priesters. Die beiden Frauen saßen auf, der Pope trottete hinterher. Über eine Stunde dauerte der Ritt hinauf ins fast unbewohnte Dorf Vatsiana. Straßen gab es damals auf Gavdos überhaupt noch nicht, die ganze Insel zählte gerade einmal 60 Bewohner.
Der Priester, seine Frau und seine beiden Töchter nahmen Christiane wie ein Familienmitglied in ihrem Haus auf. Zu Ehren des Gastes wurden an mehreren Abenden Konservendosen mit dänischem Frühstücksfleisch oder Ölsardinen geöffnet, ansonsten gab es vegetarische Kost und täglich frische Eier von den eigenen Hühnern. Nach dem Essen wurde der Schwarz-weiß-Fernseher eingeschaltet. Elektrischen Strom gab es damals auf Gavdos noch nicht. Das Gerät war an eine alte Autobatterie angeschlossen. Das Bild war mehr zu erahnen als zu sehen.
Eine zweite Abendbeschäftigung war das Monopolyspielen. Poppi hatte Christiane vorgewarnt: Der Pope musste gewinnen, sonst war er den ganzen nächsten Tag lang ungenießbar. Man gewährte ihm die Freude gern. Als Gastgeschenk am Ende der Reise zeichnete der fromme Mann eine Inselkarte, denn gedruckte waren auf der ganzen Welt nicht erhältlich. Die vielen guten Strände der Insel zeichnete er nicht ein, denn sie waren für die Insulaner damals gänzlich unbedeutend. Topographische Punkte waren die beiden Inseldörfer, der Anleger, der Leuchtturm – und als wichtigster Punkt überhaupt die Stelle, an der der Apostel Paulus auf seiner Reise nach Rom Schiffbruch erlitt.
Anfang Oktober flog dann auch ich von Athen nach Kreta. Von Chania ging es per Bus nach Paleochora, wo Christiane schon auf mich wartete. Am nächsten Tag bestiegen wir gemeinsam das Kaiki. Mit an Bord war noch ein junger deutscher Rucksacktourist. Diesmal wollten wir nicht beim Popen übernachten. Christiane hatte bei ihrem ja gerade erst beendeten ersten Inselaufenthalt herausgefunden, dass man im Hauptdorf Kastri beim Inhaber einer der beiden Kafepantopolia ein Zimmer mieten konnte. Also wanderten wir zusammen mit dem anderen Deutschen nach Kastri hinauf. Der Ladeninhaber führte uns zu einem nahen zweigeschossigen Haus am Dorfrand. Darin war auf jeder Etage ein großes Zimmer, das jeweils die ganze Grundfläche des Gebäudes einnahm. In jedem der beiden Zimmer stand als einziges Möbelstück ein Bett. Ein Badezimmer gab es nicht. Im steinigen Vorhof konnte man aber Wasser aus einem Brunnen schöpfen, in einen bunt bemalten Kanister mit Wasserhahn einfüllen und dann das „fließend kalt Wasser“ genießen. Eine Toilette fehlte völlig. Fürs kleine und große Geschäft musste man sich auf eine Brache hinterm Haus begeben.
Nach kurzem Verschnaufen gingen wir ins Kafepantopolio. Wie der Name schon sagt, war es Kaffeehaus und Gemischtwarenhandlung zugleich. Ein niedriger Verkaufstresen trennte beide Bereiche. Der Kaffeehausbereich bestand aus einer niedrigen, bühnenartigen Empore, auf der ein Tisch und vier Stühle standen. Der Wirt bat uns, dort Platz zu nehmen und schenkte jedem von uns ein Glas Wein ein. Er bot uns an, das zu essen, was es mittags in seiner Familie gegeben hatte. Davon sei noch etwas übrig. Das lehnten wir natürlich nicht ab und genossen die dicken Bohnen mit einem Stück Ziegenkäse. „Die nächsten Tage könnt ihr mir dann immer morgens sagen, was ihr abends essen wollt“, bot uns der Wirt noch an. In Ermangelung von Alternativen akzeptierten wir das gern. Dass wir fortan abends im Laden essen würden, sprach sich unter den wenigen Dorfbewohnern schnell herum. Wir wurden zum Theaterensemble. Während wir aßen, saßen stets mehrere männliche Dorfbewohner auf Stühlen direkt vor dem Tresen und schauten uns zu. Erst, wenn wir fertig waren, brachen sie ihr Schweigen und stellten uns Fragen.
In unseren sechs gemeinsam Tagen auf Gavdos erkundeten wir zu Fuß die ganze Insel. Wir lernten die beiden Inselpolizisten kennen, die nichts anderes zu tun hatten, als täglich in einem Bericht niederzuschreiben, dass es nichts zu berichten gab. Und wir besuchten auch noch einmal den Inselpopen und seine Familie. Als Gastgeschenk überließen wir ihm Christianes einklappbaren Reisewecker, den er zuvor so bewundert hatte. Beim nächsten Mal sollten wir ihm bitte ein Fernglas mitbringen, damit er Kreta besser sehen könne.
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Rainer Schnautz (Samstag, 26 März 2022 21:42)
Ja diese Zeiten 1981 Gavdos mit unserem Sohn 3,5 Jahre Sarrakiniko draussen geschlafen und Wasser aus der Zisterne,in der schwarz gestrichenen Taverne gabs kaltes Bier und so ich es erinnere den einzigen Kommunisten auf der Insel und das Bier war kalt und die Diskussionen unendlich unter dem wunderbaren Sternenhimmel und der Schlafplatz unser 3 Sternehotel outside Ta leme Rainer
kokkinos vrachos (Montag, 12 September 2022 08:45)
Gavdos: Mit Gaddafi im Kafenion: https://www.in-greece.de/gavdos/artikel/96163-gavdos-mit-gaddafi-im-kafenion
vg aus Hamburg, kv
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