Die karge Insel Ikaria ist schon seit über einem Jahrzehnt für ihre vielen über 100-jährigen Bewohner weltbekannt. Schuld daran ist der US-amerikanische Bestsellerautor Dan Buettner. Er machte auf der gesamten Erde die fünf Regionen ausfindig, in denen die Menschen am ältesten werden. Er fand sie in Teilen von Sardinien, Costa Rica und Kalifornien sowie auf der japanischen Insel Okinawa – und eben auf der griechischen Insel, vor der beiden ersten Flugreisenden der Weltgeschichte ins Meer stürzte, weil er den Ratschlag seines erfindungsreichen Vaters Dädalus nicht befolgte, der Sonne nicht zu nahe zu kommen.
Angeregt durch Buettners Buch reisten fortan Hunderte von Journalisten aus aller Welt nach Ikaria, um ihre Story zum Thema zu finden. Ich war 2014 einer von ihnen. Ein großes s Reisemagazin hatte mich beauftragt, dort einen 100-jährigen zu finden und zu interviewen. Zeitgleich mit mir sollten ein deutscher Fotograf und seine Assistentin für 24 Stunden eingeflogen werden, um ein Foto des oder der Hundertjährigen zu schießen.
Meine Vorrecherchen waren recht erfolglos. Alle meine Kontaktpersonen auf Ikaria bestätigten mir zwar, dass es viele solcher Menschen auf der Insel gäbe. Keiner aber wollte mir Namen oder gar Kontaktdaten nennen. An dem Tag, an dem nachmittags das für den Verlag teure Foto-Team auf Ikaria eintreffen sollte, stand ich also mittags am Hafen des samiotischen Karlovassi mit leeren Händen da und wartete auf die Fähre hinüber auf die Insel der Alten. Kurz bevor sie anlegte, erhob ich meine Stimme laut in der Schlange der Wartenden und stellte verzweifelt die Frage: „Kennt einer von euch auf Ikaria Hundertjährige?“. Ich bekam keine Antwort.
Nach 90 Minuten warteten an der Treppe zur Garage etwa 30 Menschen darauf, im Hafen von Evdilos von Bord gehen zu können. Denen stellte ich nun allen einzeln die für mich so wichtige Frage. Und tatsächlich: Ein Mann erbarmte sich meiner und nannte mir den Namen und die Telefonnummer eines über 100-jährigen Verwandten, der in einem ikariotischen Bergdorf noch immer ein Kafenio betrieb. Ich könne ihn in seinem Kafenio immer ab mittags erreichen, früher mache er nach gutem ikariotischen Brauch nicht auf.
Im Hotel angekommen, stellte ich sogleich der jungen Rezeptionistin meine Ikaria-Standardfrage. Ja, sie kannte eine über 100-jährige Frau. Ihr Enkelsohn betreibe im benachbarten Ort eine Taverne, den solle ich fragen. Zum Abendessen war ich sogleich zusammen mit meinem Fotografen dort. „Ich würde euch gern weiterhelfen,“ sagte er, „aber meine Oma hat in der vergangenen Woche schon zweimal vor Fernsehkameras gestanden und ist jetzt etwas verwirrt. Sie braucht erst einmal Ruhe. Kommt übermorgen wieder, dann frage ich sie.“ Das war für uns leider zu spät, da der Fotograf am nächsten Abend schon nach Athen zurückfliegen musste.
Nach einer recht schlaflosen Nacht brach ich mit dem Foto-Team schon gleich nach dem Frühstück auf, um auf gut Glück nocb unser Objekt der Begierde zu finden. In den meisten Dörfern waren die Kafenia noch nicht geöffnet. Wirt sprachen Passanten an. Alle kannten Alte, meinten aber, vor mittags kämen die kaum aus den Betten. Im großen Bergdorf Christos Rachon erhielten wir eine bedrückende Nachricht: Alle über Hundertjährigen der Insel seien der Interviews müde. Im vergangenen Monat seien schon Fotografen und Kameraleute aus Brasilien und Korea, Schweden, Italien und Gott-weiß-woher im Dorf gewesen. Die Alten hätten beschlossen, fortan nicht mehr für Aufnahmen und Interviews zur Verfügung zu stehen. Basta!
Langsam drängte die Zeit. Glücklicherweise hatte ich ja noch meine Empfehlung vom Fährpassagier in Reserve. Also fuhren wir zu seinem Dorf-Kafenio. Es war bereits High Noon, als wir dort eintrafen. Das Lokal war noch zu, aber an einem langen Tisch im Garten davor saßen schon drei Alte und warteten auf den Wirt. Wir ließen die Fotoausrüstung erst einmal im Auto. Ich setzte mich zu den Senioren und wir unterhielten und eine halbe Stunde lang über Ikaria, Gott und die Welt. Ich vermied es aber, dass Thema „Uralt werden“ anzusprechen. Sie fassten Vertrauen zu mir und drückten ihre Freude darüber auf, dass ich kein Journalist auf Altensuche sei.
Dann schloss Grigoris Tsachas, der Wirt, sein Kafenio auf. Die Alten von draußen erzählten ihm, wie nett ich sei. Ich schaute auf die Uhr: Wir mussten schnellstens mit dem Foto-Shooting und dem Interview beginnen. Grigoris fügte sich, Zeus sei Dank, ergeben in sein Schicksal. Der Fotograf baute Stativ, Kameras, Scheinwerfer und Reflektoren auf, ich entlockte dem Alten ein paar Fakten und Erlebnisse aus seinem langen Leben und nach einer Stunde hatten wir unsere Story im Kasten. Ich schämte mich, war aber auch froh. Die Alten von draußen waren die ganze Zeit über im Garten sitzen geblieben. Sie verabschiedeten mich eher kühl.
Die Redaktion war dann später zwar mit dem Foto zufrieden, aber weniger mit dem, was Grigoris über sich erzählt hatte. Einen Großteil seiner kargen Rente gab er nämlich für Kaffee und Zigaretten aus. Und auf einer Insel wie Ikaria mit so schlechter medizinischer Versorgung müsse man halt Glück haben, überhaupt auch nur das Rentenalter zu erreichen. Ansonsten müsse man vor allem schlafen, wenn man müde ist, und essen, was die Natur hergibt. Für Dosenfutter und Tiefkühlkost habe sein Geld ohnehin nie gereicht.
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Roswitha (Samstag, 23 April 2022 20:09)
Es ist nicht immer leicht ein Journalist zu sein...Danke für den netten Reisebericht. L.G
kokkinos vrachos (Donnerstag, 12 Mai 2022 17:30)
Was uns wirklich stark macht und gesund erhält: Die zehn Lektionen der 90-Jährigen von Ikaria
essen uns dick und krank. In der zweiten Lebenshälfte kommt die Quittung. Dabei müssten wir keine Lebensfreude einbüssen, um gesund zu bleiben. Im Gegenteil. Die Alten auf Ikaria machen es vor.
https://www.nzz.ch/gesellschaft/gesund-und-stark-die-zehn-lektionen-der-90-jaehrigen-von-ikaria-ld.1594476
vg aus Hamburg, kv
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