Frühe Erinnerungen (1973-1976)
Am 11. Mai 1973, einem Freitag, stieg ich in Marburg an der Lahn in den Alpen-See-Express. Der touristische Sonderzug sollte mich in die italienische Hafenstadt Ancona bringen. Ein paar meiner ersten Gäste saßen schon in den für meine Firma, „Fahr Mit“, reservierten Abteilen, andere stiegen bis München noch zu. Die meisten waren junge Frauen zwischen 18 und 23. Als Reiseleiter war ich bei ihnen der Hahn im Korb. Das stärkte mein Selbstbewusstsein noch einmal.
Zwei Jahre auf dem Schiff
Gegen Mittag kamen wir in Ancona an. Die „MV Aphrodite“ lag schon am Kai: Ein blau-weißer Dampfer von gerade einmal 4753 BRT, 110 Mann Besatzung, maximal 430 Passagiere, auf dem Autodeck Platz für einige Pkw. Dieses Schiff wurde nun für 20 Wochen meine Heimat. Woche für Woche fuhren wir die gleiche Route: Samstags um 23 Uhr ab Ancona, sonntags auf See, am Montagmittag Passage des Kanals von Korinth. Am Montag von 16 – 19.30 Uhr Piräus, am Dienstagmorgen von 9-11 Uhr Bodrum in der Türkei, am Dienstagnachmittag von 16 – 20 Uhr Rhodos. Am Mittwochmorgen Iraklio auf Kreta, nachmittags von 17-20 Uhr Santorin. Am Donnerstag den ganzen Tag über Piräus, spätabends wieder Passage des Kanals von Korinth. Gegen 12 Uhr am Samstag Ankunft in Ancona und abends mit neuen Gästen wieder los. 3284 km legten wir so auf See jede Woche zurück. Am 27. September endete der letzte Törn. Mir hatte es aber an Bord so gut gefallen, dass ich 1974 wieder an Bord ging: Diesmal vom 14. Mai bis zum 19. Oktober.
Aus den 45 Wochen als Kreuzfahrt-Reiseleiter auf der Aphrodite sind mir drei Erlebnisse am stärksten in Erinnerung geblieben. Das erste sind die Maschinenraumbesichtigungen. Jeden Sonntagmorgen durfte meine Gruppe zur offiziellen Tour in den Bauch des Schiffes hinabsteigen. Die Führung dauerte jeweils eine knappe halbe Stunde. Jeden Mittwochabend gab es dann um Mitternacht eine Bonus-Führung nur für meine Fahr Mit-Gäste. Vorher war Pyjama-Party angesagt. In Pyjama oder Nachthemd ging es Schlag Zwölf noch einmal in den Maschinenraum. Diesmal nahmen sich die Maschinisten viel Zeit. Meist blieben wir eine Stunde da drunten, bevor wir uns an Deck schlafen legten – die Weinflaschen griffbereit.
Das zweite Erlebnis war alles andere als positiv. Am Samstag, dem 20. Juli 1974, herrschte Unruhe unter der Besatzung und den griechischen Passagieren. In meinem damaligen unpolitischen Modus verstand ich nicht warum. Mit dem Alpen-See-Express am Mittag traf nur die Hälfte der mir avisierten Passagiere ein. Von denen entschlossen sich auch noch zwei, lieber in Italien zu bleiben als an Bord zu gehen. Jetzt wurde mir klar: Die Türkei hatte mit der Invasion Zyperns begonnen.
Die MV Aphrodite lief trotzdem fahrplanmäßig um 23 Uhr aus. Die Besatzung war ebenso bedrückt wie die griechischen Passagiere. Man fürchtete, dass die Türkei auch Griechenland angreifen könnte. Auf jeden Fall war klar: Auf Zypern würden griechische Soldaten mitkämpfen und sterben. Unsere DJay Kathy McIntyre aus Bristol legte nach dem Auslaufen trotzdem die gleiche Disco-Musik auf wie immer und das Flirten in meiner Gruppe begann, während griechische Großmütter weinend in ihren Kojen lagen, weil sie den Tod ihrer Kinder und Enkel vor Augen hatten. Viele von ihnen hatten noch Bilder aus den Kriegen in den 1940er Jahren vor Augen, Welt- und Bürgerkrieg. Diese Zeit war damals ja gerade erst 25 Jahre vorbei.
Als wir am Montagnachmittag am 22. Juli 1974 in Piräus anlegten, mussten zehn jüngere Männer von der Crew von Bord. Sie hatten einen Einberufungsbefehl erhalten. Unser Reeder schien gute Beziehungen zur Militärjunta zu haben, denn wir waren das einzige Kreuzfahrtenschiff, dass seinen Törn fortsetzen durfte. Von allen anderen war so viele Crewmitglieder vom Militär einkassiert worden, dass sie nicht mehr betriebsfähig waren. Jetzt ging eine andere Angst an Bord um: Von türkischen U-Booten torpediert zu werden. Wir jungen Deutschen und die anderen Touristen an Bord tanzten trotzdem fröhlich weiter.
Am Dienstag, dem 23. Juli, legten wir dann statt im türkischen Bodrum auf der damals touristisch noch ganz jungfräulichen Insel Kos an. Das sollte für den Rest der Saison auch so bleiben. Ansonsten setzten wir unsere Kreuzfahrt nach Programm fort. In Iraklio hatten sich am Mittwoch allerdings viele junge Rucksacktouristen am Hafen versammelt. Alle hatten Angst vor einem Krieg, zumal viele Kreter ihre alten Waffen aus dem Schrank geholt hatten, um ihre Insel gegen die Türken zu verteidigen. Fähren fuhren nicht mehr, die Flugzeuge waren ausgebucht. Wir waren das erste Schiff, das Iraklio seit Sonntag wieder anlief. In ihrer Furcht versuchte eine größere Zahl von Urlaubern, unsere MV Aphrodite zu stürmen. Der Kapitän forderte die Polizei an und wir fuhren als reines Kreuzfahrt- und nicht als Flüchtlingsschiff weiter. Wir wurden nicht torpediert und nahmen am folgenden Samstag wieder neue Passagiere an Bord. Es waren nur wenige, denn die meisten hatte ihre Reise kurzfristig storniert oder umgebucht.
Während dieses zweiten Törns dauerte der blutige Kampf auf Zypern zwar an, aber die Gefahr eines Krieges in der Ägäis schien gebannt. Die Junta wankte, ihr Sturz schien nah. Aber noch hingen die Fotos der Obristen in allen Läden und Tavernen, waren die meisten Griechen verängstigt und unfrei. Als meine Gruppe mit mir am Dienstagabend (30. Juli) auf Rhodos nach reichlich Weingenuss auf dem Weg aus der Altstadt zum Schiff lautstark „Papadopoulos kaputt, Papadopoulos kaputt“ skandierten, zeigte keiner der Rhodier am Wegesrand eine Reaktion.
Das dritte Erlebnis hatte wie die türkische Invasion Zyperns Langzeitfolgen. Am 28. September 1974 sah ich zum ersten Mal meine heutige Frau Christiane. Ich stand auf Gummilatschen mit Rauschebart, langen Haaren und Sonnenbrille auf dem Bahnsteig in Ancona, um meine neuen Fahr Mit-Gäste abzuholen. Christiane war dabei. Eine Kollegin hatte sie zur Kreuzfahrt überredet. Die war im Frühjahr schon einmal an Bord der MV Aphrodite, hatte damals jedoch ihren Freund mitgebracht. Sie hatte sich aber wohl in mich verguckt und wollte nun ihr Glück bei mir ausprobieren. Jetzt wurde ihr aber die Freundin zum Verhängnis. In die verknallte ich mich schon am zweiten Abend an Bord und desertierte am Dienstag auf Rhodos. Ich blieb mit Christiane für eine Woche auf der Insel, statt Dienst auf dem Schiff zu tun. Christianes Freundin musste sich einen anderen Liebhaber suchen und fand ihn in einem zärtlichen rhodischen Sänger.
Nach der gemeinsamen Woche auf Rhodos musste ich noch ein paar Wochen meinen Dienst auf dem Schiff absolvieren, während Christiane in die Bremer Uni-Bibliothek zurückkehrte, wo sie als verbeamtete Bibliothekarin arbeitete. Wir hatten vereinbart, sie würde mir eine Postkarte mit nur einem Wort darauf schreiben, falls sie mich den Winter über in Bremen beherbergen wollte: „Komm!“.
Die Postkarte kam. Ich fuhr im roten Cordanzug in die schöne Hansestadt – und blieb bis heute da. Christiane warf den roten Cordanzug auf den Müll und hängte ihr Beamtentum an den Nagel und flog mit mir im nächsten Frühjahr nach Athen, wo ich für Fahr Mit sieben Monate lang als Gebietsreiseleiter arbeitete und für meine Buchprojekte recherchierte Im Dezember 1979 heirateten wir (und luden zum Hochzeitsessen natürlich in ein griechisches Restaurant in Bremen ein), im Januar 1980 kam unser Sohn zur Welt und zwei Jahre später folgte ihm unsere Tochter.
Fortsetzung folgt...
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Ina (Donnerstag, 06 April 2023 18:00)
Spannung
Nguyen Van (Wolpert) (Donnerstag, 06 April 2023 19:38)
Hervorragend erzählt, interessante Reaktionen der Menschen, denen du zu der damaligen Zeit begegnest bist. Danke auch für die Einsichten in dein Privatleben. Alles zusammen sehr lesenswert! LG Barbara Nguyen Van, geb. Wolpert
Tarling Margrit (Samstag, 08 April 2023)
Weiter so. Sehr interessant.